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Zum Leben gehört Auseinandersetzung

von Marcus Knill

Jugendgewalt
Die Gewalt nimmt zu - davon sind wir fast alle überzeugt. Wie auch bei anderen Problemen müssen hier Jugendliche oft als Sündenböcke herhalten. Diese Seite geht den Fragen nach, ob es spezifische Jugendgewalt überhaupt gibt, welche Gründe sie allenfalls haben könnte und wie ihr zu begegnen wäre.

Dass Jugendliche gewalttätig sein können, ist nicht neu. Wer erinnert sich nicht an die eigene Jugendzeit? Wer erinnert sich nicht von der Geschichte an die brutalen Saubannerzüge der alten Eidgenossen, bei denen Jugendliche an vorderster Front mitmarschierten? Doch die Verhaltensrituale bei Gewaltakten sind heute nicht analog. Fachleute reden von einer mangelnden Hemmschwelle. In der Regel hielt früher ein Aggressor von weiteren Schlägen ab, wer in sich das Opfer nicht mehr bewegte. Es gibt einige Gründe, die bei der Eskalation der Gewalt eine Rolle spielen könnten:

1) Der zu leichte Zugang zu Waffen.
2) Kinder werden sich selbst überlassen, vorab in der Pubertätsphase.
3) Die Medien sind mitschuldig. Der Konsum von brutalen Filmen, Videos und gewaltverherrlichenden Computerspielen lehren den Jugendlichen, dass Gewalt mit Gegengewalt gelöst werden muss.
4) Konstante Bezugspersonen fehlen. Viele Familien sind geschieden. Auch in der Schule wird nach der Devise unterrichtet: 'Handeln bedeutet Wandel' Die Lehrpersonen wechseln zu oft im Volksschulalter. Statt Förderung von Konstanz wird Unruhe programmiert.
5) Den Kindern wird nicht beigebracht, mit Frust und Stress umzugehen und mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Die hedonistische Haltung basiert ausschliesslich auf dem Vermeidungsprinzip, Schwierigkeiten werden nicht als Chance erkannt.
6) Cool sein ist 'in': Wer Emotionen zeigt, ist ein Schwächling.
7) Die Gruppen prägen das Verhalten, legen die Wertmassstäbe fest. Die Gruppe ist gleichsam Sinnersatz bei einer sich ausbreitenden Sinnleere. Wer die Gruppennormen befolgt, wird geachtet und kommt wenigstens bei den Gruppenmitgliedern zu jenem Erfolgserlebnis, das im Job, in der Schule oder in der Familie mangelt.
8) Gewalt ist anonymer und brutaler geworden. Die Hemmschwelle, zur Waffe zu greifen oder plötzlich auszurasten, ist gewaltig gesunken. Ein Zurechtweisen, ein Blick - genügen und es kann zu Überreaktionen kommen. Davon können Hauswarte und Lehrkräfte ein Lied singen (vielleicht auch Eltern). Selbstbeherrschung wird nicht mehr geübt.
9) Der Verlust an stabiler Identität.
10) Die Arbeitslosigkeit verstärkt die Sinnleere.
11) Die Züchtung des Egoismus und die mangelnde Förderung, sich eingliedern zu können, rächen sich heute. Sie führt zum Ellbogenverhalten. 'Ich will- aber subito! Wenn Du nicht willst, dann brauch ich eben Gewalt.' Das beginnt schon im Warenhaus, wenn die Begleitperson nicht gewillt ist, die momentanen Wünsche zu erfüllen.
12) Orientierungshilfen fehlen und führen zu einer Orientierungslosigkeit. Es mangelt an: positiven Vorbildern, religiösen Werten, Verbindlichkeiten, Regeln, Leitplanken und Geboten.
13) Das Leben ist nicht mehr lebenswert. Drogen erfüllen den Sinn des Daseins.
14) Worte werden nicht ernst genommen. Viele Eltern und Erziehende bagatellisieren die verbale Gewalt mit der Rechtfertigung: 'Es ist ja nicht so gemeint.'

Den einen Grund gibt es nicht

Es ist klar, dass die Ursache für Gewalt nicht nur in einem der mutmasslichen Sachverhalte zu suchen ist. Möglicherweise sind alle Gründe mehr oder minder mit im Spiel. Dennoch der Versuch, einige konkrete Möglichkeiten und Wege zu beleuchten, die dazu beitragen könnten, die Gewaltspirale zu stoppen:

1) Die Auseinandersetzung mit Kindern in verschiedenen Trotzphasen ist wichtig. Denn ein Mensch kann nur seine Ich-Stärke entwickeln, wenn er sich messen kann am Du. Konflikten oder Meinungsverschiedenheiten sollten wir in der Regel nicht ausweichen. Erwachsene müssten sich vermehrt den verbalen Auseinandersetzungen stellen. Dies verlangt jedoch Präsenz.
2) Nehmen wir die Wortinhalte wieder ernst, denn Worte prägen das Denken. Müssen wir die Fäkalsprache am Esstisch dulden? Dürfen sich Mütter und Väter von Kindern, taktlos beleidigen lassen? Sollen grobe menschenverachtende Aussprache im Klassenzimmer einfach hingenommen, überhört werden? Der Ausspruch 'Es ist ja gar nicht so gemeint' musste hinterfragt werden, indem bewusst gemacht wird, dass, es aber doch so gesagt wurde und die andere Person die Begriffe ernst genommen hat. Bei allen Kommunikationsprozessen gibt es einen Sender und einen Empfänger. Beide Seiten haben ihre eigenen Ansprüche.
3) Wenn es heute an der Konstanz der Bezugspersonen mangelt, lohnt es sich vielleicht, einmal die Konzepte im Alltag der Volksschule zu durchleuchten. Schulbehörden und Verantwortliche für Lehrprogramme und Leitbilder müssten alles daran setzen, dass es wenigstens in der Schule zu einer gewissen Ruhe (Nestwärme) kommt, Dass zahlreiche Familien nicht mehr intakt sind, ist leider eine Tatsache. Zerrüttelte Familienverhältnisse lassen sich schwerlich von aussen korrigieren. Bei den Schulverhältnissen können wir aber Vermehrtes tun.
4) Bei den Medien sind wir alle in einer Umbruchsituation. Internet, Computerspiele, Videos sind unserer Kontrolle häufig entzogen, Brutalofilme mit echten Tötungen lassen sich beliebig kopieren und als Märchenkassetten tarnen. Die Kinder können von Eltern und Lehrpersonen nicht rund um die Uhr überwacht werden. Das Netzwerk am Bildschirm ist offen. Eine internationale Internetpolizei gibt es noch nicht und wird es wohl nie geben. Alles bleibt bewusst offen, und alles kann von irgendwoher ins Netz eingespeist werden. Es ist dadurch auch Kindern möglich, jederzeit Pornos oder rechtsextreme Anweisungen abzurufen. Trotzdem sind wir nicht rettungslos verloren. Erziehende haben die Pflicht, den Jugendlichen im Umgang mit den neuen Medien behilflich zu sein. Eltern und Lehrkräfte müssten sich dringend medienpädagogisch weiterbilden. Verbote taugen in diesem Bereich wenig. Jugendliche müssen von sich aus einsehen, was die Mediensucht bewirkt oder was für Folgen etwa der dauernde Konsum von Brutalos haben kann.
5) Intelligenzforscher Prof. Dr. Robert Sternberg (IBM-Professor für Psychologie und Erziehungswissenschaften in Yale ) weist in seinen 20 Strategien über die Menschen mit Erfolg verfügen sollten auf einige wichtige Kompetenzen hin, die leider in der heutigen Schule zu stark vernachlässigt werden. Zur Erfolgsintelligenz gehören nach Sternberg unter anderem folgende Kompetenzen:
Menschen mit Erfolgsintelligenz können auf Belohnungen warten;
Menschen mit Erfolgsintelligenz können durchhalten;
Menschen mit Erfolgsintelligenz bringen ihre Aufgabe zu Ende; Menschen mit Erfolgsintelligenz versuchen Schwierigkeiten zu überwinden;
Menschen mit Erfolgsintelligenz träumen, aber sie setzen die Gedanken in Taten um.

Wer mit Frust und Stress umgehen kann, ist lebenstüchtig.

Wer mit gewalttätigen Jugendlichen zu tun hat, sieht schnell, dass diese Fähigkeiten viel zu wenig entwickelt werden. Weder in der Schule noch im Elternhaus. Anstatt dem Frust und Stress auszuweichen, könnten wir uns künftig vermehrt auch mit den unangenehmen Seiten auseinandersetzen. Bekanntlich besteht das Lebem nicht nur aus Honigschlecken. Lebenstüchtig ist letzlich jene Person, die mit Frust und Stress, mit Konflikten umgehen kann. Ein erfolgreicher Allgemeinpraktiker erzählte in einem Gespräch, dass er in der bewussten Konfrontation mit unangenehmen Situationen am meisten gelernt habe. Er habe deshalb diese Situationen absichtlich gesucht. Es habe sich mehr als gelohnt. Er habe beispielsweise lange Zeit Probleme gehabt im Umgang mit Kindern. Deshalb arbeitete er absichtlich anderthalb Jahre in einem Kinderspital. Ferner hätte er immer Mühe gehabt im Umgang mit toten Menschen. Er suchte hierauf bewusst eine Arbeit, bei der er monatelang Leichen sezieren musste. Diese Konfrontation habe ihn weitergebracht. Die Frage ist berechtigt: Weichen wir bei der Erziehung und in der Ausbildung nicht allzu rasch den unangenehmen Situationen des Alltages aus? Nach der Phase ungehemmter Selbstverwirklichung müsste wieder etwas Gegensteuer gehalten werden, indem wir Jugendliche auch wieder lehren, mehr für die Gemeinschaft zu tun. Förderung der Teamfähigkeit heisst mitunter: Die Balance finden zwischen dem 'Sich ernst nehmen' und dem 'Für andere auch da zu sein'.

Externe Links zum Thema

  • Neue Lernhorizonte (English)

  • Das ist eine HTML-Umsetzung eines Artikels, der in den Schaffhauser Nachrichten am 16. Juni 1998 erschienen ist.
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