23. März, 2004, Neue Zürcher Zeitung 

Die Kunst des richtigen Redens
von Thomas Veser 

Zur Rhetorik-Ausbildung an Schweizer Schulen "Es trägt Verstand und
rechter Sinn / Mit wenig Kunst sich selber vor; / Und wenn's euch ernst
ist, was zu sagen, / Ist's nötig, Worten nachzujagen?"  - Diese
Frage des Faust lässt sich für die Schweiz leicht beantworten:
Rhetorik und Debattierkultur haben an den Schulen kaum Fuss gefasst und
werden nicht systematisch gefördert. Immerhin lassen sich in den
Landesteilen unterschiedliche Einstellungen zur Rhetorik nachweisen:
Bringt man ihr in der Deutschschweiz in der Regel ausgeprägte
Skepsis entgegen, stösst sie in der Romandie als Bestandteil der
französischen Sprachkultur auf weniger Vorbehalte. Weil es dort schon
verhältnismässig lange Jugendparlamente gibt, werden bereits
junge Menschen mit Vortrags- und Debattiertechniken vertraut gemacht.

Mehr Aufgeschlossenheit als die Deutschschweizer zeigen auch die
Tessiner, für die zum wohlklingenden "parlare" auch eine den
Vortrag und die damit verbundenen Absichten unterstützende
Körpersprache gehört.  "Deutschschweizer Redner bevorzugten
hingegen die Gleichförmigkeit, um sich nicht dem Vorwurf des als
verwerflich eingestuften Schönredens auszusetzen", bemerkt der
Schweizer Kommunikationsberater und Medienpädagoge Marcus Knill. "Man
beherrscht sich, reduziert die Körpersprache und beschränkt
sich rein auf die Verbalsprache", meint Knill, der dem deutschsprachigen
Landesteil eine "amputierte Redekultur" bescheinigt. Knill plädiert
für den Begriff der "angewandten Rhetorik", die nicht als Kosmetik
missverstanden werden dürfe.  Zu dieser Technik gehören
einfache Sätze, durchdachter Aufbau mit rotem Faden, Kürze
und das Einfügen konkreter Beispiele. Rhetorik, so Knill, sei
"das permanente Bemühen um Präsenz".

In den Mittelschulen einiger Kantone ist die Rhetorik zumindest in ihren
Anfängen bereits integriert, oftmals werden einzelne Elemente
in den Deutschunterricht eingebaut. Eher ungewöhnlich ist der
Weg, den das Baselbiet im Vergleich zu anderen Kantonen gewählt
hat. Dort haben an allen Diplommittelschulen (DMS) Schüler der
zweiten und dritten Klassen die Möglichkeit, aus dem Angebot der
"berufsspezifischen Vorbereitungskurse" zwei Semester lang auch den Kurs
"Gesprächsführung" zu wählen.  Teilnehmer können
sich dabei gezielt auf Vorstellungsgespräche, mündliche
Prüfungssituationen und Konfliktfälle vorbereiten. "Der Zuspruch
fällt so hoch aus, dass wir diese Kurse doppelt führen. Viele
Teilnehmer wollen Primarlehrer werden oder streben paramedizinische
Berufe an", sagt dazu Guy Kempfert, Rektor Gymnasium Liestal/DMS und als
Geisteswissenschafter in Rhetorik ausgebildet. Ob Baselbieter Maturanden
ihre Rhetorikfertigkeiten in einer eigenen Lehrveranstaltung verbessern
können, hängt von der jeweiligen Lehrstätte ab: Nicht
jedes Gymnasium bietet dieses Thema als Wahlkurs an.

Im Kanton Zürich will die Germanistikprofessorin Christa
Dürscheid die schulische Rhetorikausbildung in Schwung bringen. Als
Inhaberin des Lehrstuhls für deutsche Sprachwissenschaft an der
Universität bereitet sie Trainingskurse an Kantonsschulen und freien
Gymnasien vor. Im ersten Schritt ist für Lehrer ein ganztägiger
Fortbildungsgang geplant, an den Schulen werden die Schüler
in diesem Jahr von August bis Oktober trainiert.  Anschliessend
wählt man innerhalb der einzelnen Schulen nach den Kriterien
Sachkenntnis, Ausdrucksvermögen, Gesprächsfähigkeit
und Überzeugungskraft die besten Rhetoriker aus, dann treten die
einzelnen Schulen gegeneinander an. Anlässlich der im Sommer 2005
geplanten Zürcher Tagung "Perspektiven der Jugendsprachforschung"
veranstaltet Christa Dürscheid mit den Finalisten einen
Rhetorikwettbewerb.

Die Gewinner erhalten im Sommer eine Einladung nach Berlin in den Amtssitz
des deutschen Bundespräsidenten. Dort messen sich die Finalisten
des Rhetorikwettbewerbs "Jugend debattiert", den die gemeinnützige
Hertie-Stiftung ins Leben gerufen hat. Sie leistet Dürscheid auch
Hilfestellung für die kantonale Rhetorikausbildung. Vor vier Jahren
beschloss die in Frankfurt am Main ansässige Privatstiftung, die
Rhetorik an deutsche Schulen zurückzubringen. Damals hatte sie
erstmals mit Schülern im Alter von 11 bis 13 ausschliesslich an
Frankfurter Gymnasien und Berufsschulen kostenfreie Rhetorikkurse durch
Trainer ausserhalb des Unterrichts angeboten. Im zweiten Jahr wurden
Rhetorikkurse als fester Bestandteil im Unterricht verankert. Und
dazu gehört, dass die Lehrer sämtliche Fächer nach
Rhetorikregeln erteilen können. Mittlerweile hat die Stiftung ihr
Angebot auf alle 16 Bundesländer ausgeweitet, bereits 169 Schulen
beteiligen sich an diesem für Europa ungewöhnlichen Netzwerk
(www.ghst.de)